Klettern in Patagonien — Träume aus Fels und Eis

Fotos von Simon Pöchheim, Matthias Schmäing, Noha Ladner, Federico Ruffini, Claudio Suter und mir.

Klettern mit Ausblick an der Paredon de los Cóndores     Photo: Claudio Suter

Patagonia – dank dem US-amerikanischen Kleidungshersteller kennen auch in Deutschland fast alle diesen Namen und das Emblem mit der Bergsilhouette im Sonnenaufgang. Dass sich Patagonien über eine Länge von mehr als 2000 km erstreckt und eigentlich Steppe und Wüste ist, weiß hingegen fast keiner. Während die Anden über ihre gesamte Länge fast nur aus großen Schutthügeln bestehen (mit ein paar Ausnahmen 😉) erheben sich hier fast senkrechte Granittürme mit Wandhöhen von eineinhalb km Höhe aus den Höhenzügen, die nach Osten hin in die patagonische Steppe übergehen und nach Westen hin ins (bisher) ewige Eis übergehen. Auch wenn es in einigen Teilen dieser Welt noch einiges höhere Berge gibt, so gibt es doch aus Kletterer-Sicht wohl kaum spektakulärere (und auch klettertechnisch schwierigere) Berge, als die patagonischen Granit-Nadeln von Cerro Torre und Fitz Roy im Chaltén-Massiv, welches auch die Bergregion ist, von der das Patagonia-Logo inspiriert ist. Es liegt etwas nördlich von Feuerland am Rande des patagonischen Inlandeises, den letzten großen Kontinentaleisfeldern, die auf den bewohnbaren Kontinenten übriggeblieben sind. Pinguine und Orcas gibt es auch schon 1500 km nördlicher. Die Gletscherzungen ziehen sich hier herunter auf bis zu 500 Meter Meereshöhe. Die Großwetterlagen von Pazifik und Atlantik treffen hier aufeinander. Das führt vor allem zu einem: Wind – der wichtigste Parameter in diesen Bergen. Ausgangspunkt zu den Bergen im Fitz Roy-Massiv ist das Dorf El Chaltén. Hier tummelt sich eine bunte Masse von Rucksackreisenden und Kletterern aus aller Welt, aber auch immer mehr „normale Touristen“. Wie jedes Jahr im südamerikanischen Sommer sind viele Kletterer der weltweiten Alpin-Elite zum hier.

Leiden(schaft) Klettern: Wie groß diese Berge sind, merkt man schon beim Zustieg.  Was zum Greifen nahe ausschaut, entpuppt sich als sehr straffe Tagestour. Die Tagesetappen der Trekkingtouren sind meistens nur ein knappes Drittel vom Zustieg zu den Kletter-BaseCamps. Dafür darf man noch 10 kg extra an Kletterausrüstung mitschleppen.
Mein erster Felskontakt mit dem patagonischen Granit habe ich an der Aguja de la Medialuna, einer kleinen Felsnadel mit etwa 350 m Höhe unterhalb der Torre-Gruppe. Zusammen mit Simon aus Regensburg wage ich mich an die Tour „Rubio y Azul“ (6c, 350m), was übersetzt „ Blond und Blau(äugig)“ heißt und bei Simon auch vom Äußern her passt . Das Wetterfenster ist kurz, für einen knappen Tag ist der Höhenwind für weniger als 50 km/h vorhergesagt. Viele 5er-Längen, und ein paar 6er-Längen bis 6c. Leichtes Spiel? Gleich mal in der ersten 5+ Länge gibt’s auf die Nase: Ein tiefer schulterbreiter Riss macht uns das Leben schwer. So große Klemmgeräte haben wir gar nicht mitgenommen. Erst 10 Meter weiter oben könnte wieder was passen. Also mit Knie und Schulter rein und sich hochrampfen? Das fühlt sich unglaublich schwer an… Letztendlich lässt sich die runde Kante des Risses doch piazen (Gegendruck auf den Füssen). Trotzdem bin ich sehr demoralisiert als ich Stand mache, wenn die 5er-Längen schon solche Hürden darstellen. Danach werden die Verschneidungen und Risse glücklicherweise etwas dünner und wir kommen besser in den Kletterfluss. Innerhalb von ein paar Stunden erleben wir Windstille und Sonnenschein und Windböen mit Graupelschauern, die von unten nach oben geblasen werden. Nach 9 Seillängen haben wir genug. Der Wind, der durchs Torre-Tal fegt hat zugenommen, so dass wir uns nicht mehr verständigen können und wir trotz Daunenjacken und langen Unterhosen ziemlich durchgefroren sind. Das Abseilen an Schlingen, die um Felszacken liegen oder ein paar fixen Klemmkeilen oder alten Schlaghaken steigert das Wohlgefühl auch nicht besonders. Beim Seilabziehen wird das Seil weit zur Seite geblasen. Falls sich das Seil dabei an Felszacken oder Blöcken verfängt, hat man ein Problem.
Wir sind froh, wieder auf dem Boden zu sein. Das schlechte Wetter zieht wirklich etwas früher auf, als vom Wetterbericht hervorgesagt. Die starken Windböen bringen uns oft aus dem Gleichgewicht bei dem Weg aus dem Torre-Tal, aber bei diesem Wetter wollen wir nicht nochmal biwakieren. Um kurz nach 2 Uhr kommen wir nach über 20 Stunden auf den Beinen wieder in El Chaltén an. Unsere Begeisterung, aber auch unser Respekt für die Klettereien in diesen Bergen ist sehr gestiegen.

Warum das alles werden sich an dieser Stelle nun einige fragen? Eine rationale Antwort gibt es darauf nicht. Wahrscheinlich geben die Bilder die unglaubliche Eindrücklichkeit dieser Berge nur teilweise wieder. Aber weshalb nicht einfach von unten anschauen? Wer als Kind gerne auf Bäume geklettert ist, kennt den Unterschied zwischen unter dem Baum stehen und oben in der Astgabel sitzen. Es ist ein riesiges Privileg, hier zu sein. Das Wetter, die gigantischen Dimensionen und die Absicherung…, alles ist sehr intensiv. Die Tage danach passiert nicht viel. Die Haut an den Fingern, Füßen und Gesicht muss wieder heilen, die muskelkater-geplagten Beine und die vom Rucksack geschundenen Schultern werden vorsichtig ausgiebig gedehnt und ich treffe altbekannte und neu gefundene Freunde. Die Unternehmungslust kehrt bald zurück und neue Pläne werden geschmiedet. Da ich es nicht mehr als einen Tag aushalte, zu faulenzen geht es bald zum Sportklettern an den Wänden um das Dorf herum. Bohrhaken, 5 Minuten Zustieg, Mate und Süße Stücke und vor allem sehr nette Gesellschaft machen die Schlechtwettertage (= Wind in den Berge) im Dorf zum Wellness-Programm.

Insgesamt ist das Wetter diesen Sommer hier sehr durchwachsen, es gibt kaum Gut-Wetter-Fenster, die länger als ein- bis zwei Tage dauern. Ein Tag ist meistens nötig, dass der Schnee und das Eis aus den Wänden bzw. den Rissen schmelzen. An dem einzigen zweitägigen Fenster bekommt Emanuel, ein argentinischer Bergführeraspirant, mit dem ich klettern wollte, heftige Zahnschmerzen. Im Biwak ergibt sich morgens um 5 Uhr eine neue Seilschaftskombination für mich, da einer von vier Österreichischen Kletternden hier im Biwak  auch nicht ganz fit ist. Zusammen mit Noah stehe ich nach vier Stunden Kletterei über die Comesana-Fonrouge (400m, 6b+, 30°), die wir meist in Zustiegsschuhen und am laufenden Seil geklettert sind, auf der Aguja Guillamet. Dies ist der einzige Tag in den Bergen hier, den ich erlebe, an dem so gut wie kein Wind geht. Im T-Shirt sitzen wir auf der Spitze und warten auf Anna und Stefan, die zweite Seilschaft der österreichischen Truppe. Abseilen, ohne dass der Wind die Seile wegbläst und ohne Handschuhe und Daunenjacke…, ein Traum.

Eine Woche später ergibt sich wieder ein eineinhalbtägiges Wetterfenster und ich bin wieder mit Simon unterwegs (den seine Freundin Angelina dankenswerterweise mir mir ziehen lässt 😉). Ziel ist die Aguja St. Exupery über die Tour „Last Gringos Standing“ (6c+, 350m). Phänomenale Risskletterei wird im Kletterführer versprochen. Die zwei Tage davor hat es jedoch geschneit und bereits in den 4 Zustiegsseillängen liegt jede Menge Schnee, so dass wir über viele seichte Risse rechts der eigentlichen Tour klettern und viel Zeit verlieren. Um halb 12 beginnen wir mit der eigentlichen Tour, die nach Süd-West ausgerichtet ist, also auf der kalten Seite des Berges liegt. Hier liegen die Temperaturen noch unter dem Nullpunkt, eisüberzogene Felspassagen, Schnee in den Rissen und vor allem sehr harte Bewertungen lassen uns nach drei Längen umdrehen.
Da es erst 4 Uhr ist, klettern wir noch den zweiten Teil der „Austríaca“ auf die Aguja de la S´, die leichteste der Nadeln in der Fitz Roy-Kette. Mit Windschatten und Abendsonne ist die Kletterei am laufenden Seil im oberen 5. Grad ein Genuss und ein großer Kontrast zu der Tour an der Wand gegenüber. Nach 20 Stunden auf den Beinen sind wir wieder in der wunderbar windgeschützten Biwakhöhle.

Die Woche darauf gibt es einige Regentage und ich werde spontan zum Rissklettern eingeladen. Der Felstrauf liegt in der patagonischen Wüste, dem eigentlichen Patagonien, das nie auf irgendwelchen Tourismusbroschüren auftaucht. In Patagonien regnet es fast nur in den Bergen. Nach 150 km und zwei Stunden Fahrt auf üblen Schotterpisten sind wir da. Die Luft ist klar und trocken und man sieht hunderte von Kilometer in die Ebene hinein. Keine Spur von irgendetwas Menschlichem. Hier gibt es hunderte von Rissen zum Klettern – eine Fähigkeit, die man in den großen Bergen hier dringend benötigt und die sich hier sehr gut üben lässt. Endlich packe ich mal die Kamera aus, die mir in den Bergen beim Klettern sonst zu schwer und umständlich ist. Ich befinde mich in hervorragender Gesellschaft. Zum (Nach-)Mittagessen wird alles geteilt, was jeder mitgenommen hat. Mate und Kekse gibt es eh die ganze Zeit. Federico, der uns mitgenommen hat, ist Architekt und Bergführer und nach und nach bekomme ich mit, dass er gemeinsam mit einem anderen Bergführer dabei ist, ein alpines Förderprogamm für Jugendliche aufzubauen. Das inspiriert mich und ich denke, ich sollte mich auch mal wieder in der Jugendarbeit engagieren.

Ein paar Tage später mache ich mich mit Federico auf den Weg ins Torre-Tal. Die 18 km und 900 hm mit Biwak- und Kletterausrüstung sind zäh, zumal es meist über Gletschermoränen und später über den schuttbedeckten Gletscher geht. Wind und Regen sind beide stärker, als der Wetterbericht angesagt hat und beides kommt fast waagrecht von vorne. Das kann ja mal eine Nacht werden. Wir haben kein Zelt dabei…. Das Basislager im Torre-Tal heißt Niponino und befindet sich zwischen einigen riesigen Felsblöcken am Rande des Gletschers zwischen Cerro Torre und Fitz Roy. Trotz des mäßigen Wetters sind einige Leute da. Jeder hofft, dass es ein bisschen besser wird, als der Wetterbericht ansagt. Wir finden einen guten Biwakplatz hinter einem großen Felsblock. Da der Regen nicht von oben, sondern immer mit dem Wind von der Seite kommt, werden wir glücklicherweise nicht nass. Am nächsten Morgen um 6 klingelt der Wecker. Die heftigen Windböen und die vereinzelten Regentropfen laden ganz und gar nicht zum Aufstehen und noch viel weniger zum Klettern ein. Aber da wir schon so viel Mühen in den Zustieg gesteckt haben, entschließen wir uns, zumindest mal zum Einstieg der Tour ‚Frader-Pisafe (6c+, 350m, 11 Sl) zu laufen. Der Wind, oder zumindest die Windböen werden etwas schwächer. Eine Seilschaft hatte die gleiche Idee und ist schon dabei loszuklettern. Die ersten Seillängen der großen Verschneidung sind allerdings nass. Na ja, so lange kein Eis drin ist, könnte es ja klappen. Wir kommen gut voran. Für eine Weile wird sogar der Blick auf die drei vereisten Torres frei. Zum Greifen nahe aber trotzdem bin ich sehr froh, nicht da oben zu hängen 😉. Nach ein paar Stunden kommen wir tatsächlich am Gipfelschneefeld des „Mochos“ an. Hinter uns sind noch ein paar Seilschaften eingestiegen, was unser Glück beim Abseilen ist: beim Seilabziehen verhängt sich das Seil in einem Riss. Anstatt an dem Halbseilstrang, den wir schon unten haben wieder hoch zu klettern und das Seil zu lösen, entscheiden wir uns, auf die Seilschaft über uns zu warten und essen Schokolade und Mantecol (Erdnussmus, Fett und Zucker, die besten Energieriegel, die man in jedem Laden bekommt). Beim weiteren Abseilen lösen wir das verklemmte Seil einer Seilschaft unter uns. Seit dem Nachmittag verschlechtert sich das Wetter stark und alle fangen an abzuseilen.
Überglücklich, dass wir genau die richtige Tour und die passenden Stunden gutes Wetter erwischt haben, steigen wir ab ins Biwak. Nach einer ordentlichen Portion Polenta mit Käse und Schokolade als Nachtisch verkriechen wir uns in unsere Schlafsäcke. Es stürmt und regnet wieder. Es ist ein sehr gutes Gefühl, wieder unten zu sein und bei den jetzigen Verhältnissen nicht mehr in der Wand zu sein. Nach einem ausgiebigen Frühstück und einigen Mates machen wir uns am nächsten Tag auf den Heimweg. Der Wind und Regen treiben uns vor sich her und wir sind froh, endlich im Wald anzukommen. Die starken Böen und das ständige Rauschen sind körperlich und mental sehr ermüdend.

In der darauffolgenden Woche gibt es kein gutes Wetter mehr. Insgesamt ist es diesen Januar sehr schwierig mit dem Wetter. Spätestens hier in Patagonien lernt man das Umdrehen. Neben den eigenen Fähigkeiten hängt jede Unternehmung von ganz vielen anderen äußeren Faktoren ab: nasse oder eisüberzogene Felspassagen, Neuschnee, niedrige Temperaturen in der Höhe und vor allem vom Wind. Aber auch die teilweise sehr harten Kletterbewertungen und zu sparsame Ausrüstungsempfehlungen können sehr schnell zum Scheitern des geplanten Vorhabens führen. Dafür sind die Momente, in denen alles passt, umso intensiver und wertvoller. Es ist ein riesiges Privileg, sich in diesen Bergen hier bewegen zu dürfen und jedes Scheitern unterstreicht diese Einzigartigkeit und vermehrt die Lust, es wieder zu versuchen. Für mich sind es die Kontraste zum normalen Leben, die das Klettern so wertvoll für mich machen: neben einmaligen Erlebnissen in den Bergen bekommt auch das alltägliche Leben wieder unglaublich viel Geschmack: Essen im Überfluss, Wetterschutz und Wärme, zwischenmenschliche Kontakte, Entspannung… viele Dinge, die ich sonst viel weniger wertschätzen würde.

Zudem habe ich es sehr genossen, die Zeit hier mit so vielen ArgentinierInnen verbracht zu haben und so tief in die argentinische Welt einzutauchen. Es hat sehr gut getan, Spanisch zu sprechen, gemeinsam Mate zu trinken und von den Lebensrealitäten der unterschiedlichen Menschen zu erfahren.

Ich bin allen sehr dankbar für die gemeinsam durchlebte Zeit. Jetzt ist es aber auch an der Zeit, wieder heimzukommen und ich kann es kaum erwarten, Madita wieder zu sehen.

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