Argentinien — Inflation und Optimismus

von Simon Raiber

Seit nun bald drei Wochen bin ich in meinem Sehnsuchtsland, in dem ich vor 11 Jahren bereits einmal ein Jahr lang gelebt habe. Der Übergang vom Winter in den Sommer und der ungetrübte blaue Himmel fühlen sich nach den vielen Tagen am Schreibtisch nach einer großen Befreiung an. Die Dimensionen dieses Landes sind für mich nach wie vor unglaublich beeindruckend.

Meine Reise beginnt im Norden Patagoniens in Bariloche, welches wegen seinen Bergen und den vielen Seen auch ‚Argentinische Schweiz‘ genannt wird. Das argentinische Spanisch und die vertrauten Gewohnheiten vermitteln mir gleich ein Gefühl von Vertrautheit. Es hat sich wenig geändert in den letzten zehn Jahren, die Mini-Kiosks und Chorripan (Würstchen)-Buden, die üblichen Automarken und auch die Lebensmittelprodukte sind nahezu dieselben. Nur das Geld erkenne ich kaum wieder. Das einzige, was ich wiedererkenne, ist der 10 Peso-Schein: Vor 11 Jahren waren das gute 1,50 Euro, inzwischen liegt der Wert bei in etwa einem Cent. Trotzdem bekommt man ihn noch öfters als Wechselgeld. Millionär sein in Argentinien ist einfach geworden. Eine Million argentinische Pesos entspricht etwa 1000 Euro. Die Inflationsrate in Argentinien liegt inzwischen bei etwa 160 % und ist eine der höchsten der Welt. Viele Läden schreiben die Preise gar nicht mehr an, da diese wöchentlich erhöht werden. Im Restaurant sind die Preise auf der Karte mit Bleistift angeschrieben. Um Steuerhinterziehung zu vermeiden, druckt die Regierung keine großen Geldscheine. Üblicherweise wird mit 1000$-Scheinen bezahlt, also mit Ein-Euro-Scheinen. Mein Geldbeutel platzt aus allen Nähten….
Mit dem Regierungswechsel vor ein paar Wochen sind auch die erzwungenen Preisstabilisierungen von Lebensmitteln und Treibstoff entfallen. Der Benzinpreis hat sich innerhalb von wenigen Tagen verdoppelt und auch die Lebensmittelpreise haben sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt. Keiner weiß was kommt. Javier Millei hat die Präsidentschaftswahl nicht wegen seines Wahlprogramms gewonnen. Hauptsache anders!


Die erste Station meiner Reise ist Piedra Parada. Der Piedra Parada ist ein riesiger Monolith von 230 m Höhe. Direkt gegenüber mündet ein Canyon, in welchem einige hundert Sportkletterrouten eingerichtet sind. Von den 200 m hohen Wänden sind meistens nur die unteren 30 m zum Sportklettern eingerichtet. Das ganze Massiv besteht aus Vulkangestein, welches zum Teil ganz bizarre Farben und Formen annimmt. Je nach Komposition und Erstarrungsart existieren in diesem Canyon ganz viele Arten von Klettereien: Leistenklettern wie im Tessin oder Zillertal. Lochklettereien wie im Frankenjura, Riss und Kaminsysteme und auch Tafoni-Kletterei wie in Korsika. Die wüstenartige Landschaft, die Chinchillones (Riesen-Chinchillas) und die Geier, die hier ihre Kreise ziehen, ergeben ein einzigartiges Flair.

Blick aus dem Canyon zum Piedra Parada

Der Rio Chubut, der hier vorbei fließt, lässt in der Nähe des Flusses Büsche und Graß wachsen, was die Schafzucht ermöglicht. Aber auch diese ist auf dem Rückzug, da die Wollpreise nicht ausreichen. Viele Einsiedeleien sind wieder verlassen und die Pumas und Guanacos erobern das Land zurück.
Die Klettergemeinde hier ist unglaublich herzlich. Brasilianer, Chilenen, ein paar vereinzelte Europäer und natürlich viele Argentinier sind hier. Zu Weihnachten grillen wir ein Lamm, welches wir bei der nächsten Estancia für 35 Euro kaufen: Bio, Lokal und ohne Verpackung. Alle anderen Lebensmittel werden tausende Kilometer hertransportiert, sind üppig gespritzt und übertrieben verpackt. Es ist eine Herausforderung, sich hier nachhaltig und ausgewogen zu ernähren. Mit Mate und Keksen rettet man sich durch den Tag. Abends gibt’s Nudeln oder Reis….

Camping-Platz

Ich lerne den 16-jährigen Alejo und seine Familie kennen und klettere einige Tage mit ihm zusammen. Alejo ist Wettkampf-Kletterer und Argentinischer Jugendmeister. Seine Eltern sind Fotografen und editieren und verkaufen einen Großteil der Postkarten in Patagonien. Nach knapp zwei Wochen in Piedra Parada nimmt mich die Familie mit nach El Chaltén. Die 16-stündige Fahrt über die marode nationale Autobahn ‚Ruta 40‘, welche nur zum Teil asphaltiert ist, ist sehr eindrücklich. Der Geländewagen ist absolut notwendig und trotzdem habe ich Sorgen, dass es das Auto zerlegt. In einigen Abschnitten ist neben der Autobahn eine Schotterpiste zusammengeschoben, auf welcher der Verkehr umgeleitet wird, da die Löcher im Asphalt auf der eigentlichen Straße zu groß sind. Die Überlandbusse und Lastwagen fahren zwischen 30 und 40 km/h und schlingern in wilden Manövern um die größten Schlaglöcher herum. Was zum Reisen abenteuerlich scheint, ist für die Argentinier, die hier leben, unglaublich frustrierend. Seit mehr als 50 Jahren geht es in diesem Land wirtschaftlich bergab. Trotz der ungewissen Zukunft habe ich noch keinen einzigen übelgelaunten Argentinier getroffen….
Hier in El Chaltén beginnt nun das Warten auf ein Gut-Wetterfenster für Klettereien in den spektakulärsten Bergen dieser Welt.

Die markanten Berge sieht man schon von weitem…
Fitz Roy
El Chaltén
Alejo und Simon

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